Die Pflege steht unter enormem Druck. Führungskräfte navigieren zwischen Personalmangel, steigenden Anforderungen und erschöpften Teams. Wie gelingt es, in diesem Spannungsfeld Resilienz zu fördern und Teams zu stärken?
Dr. Christiane Hasenclever & Christian Thiele
Die Realität in der Pflege bleibt anspruchsvoll und angespannt – hört man von vielen Führungskräften in der Pflege: „Wir haben eine gewisse Art von Erschöpfung in den Teams", konstatiert Sabine Brase, bis vor kurzem Geschäftsführerin des Klinikums Ernst von Bergmann, Dozentin in diversen Gesundheitsmanagement-Studiengängen und selbst zertifizierte Coachin. Pflegekräfte leiden laut Studien fast doppelt so häufig an Burnout wie andere Berufsgruppen. Auch die verschiedenen Generationen mit teils recht unterschiedlichen Berufsauffassungen sind einerseits eine Herausforderung für viele Teams. Gleichzeitig „artikulieren unsere jüngeren Kolleginnen zum Glück deutlich gezielter ihre Anliegen und Probleme", beobachtet Michael Jani, Pflegedirektor und Vorstandsmitglied im Herz-Jesu-Krankenhaus in Wien. „Inzwischen haben wir auch einen hohen Anteil an Mitarbeitern, wo die Familie mit kleinen Kindern deutlich anders im Vordergrund steht. Die waren früher nicht so früh wieder im Beruf", ergänzt Gisela Gehring, Pflegedirektorin des Klinikums Garmisch-Partenkirchen. Verkürzte Liegedauern, erhöhte Fallzahlen – das, sind sich die drei einig, führe zu einer deutlichen Arbeitsverdichtung. Und die werde durch die steigende Alterung der Gesellschaft mit erhöhten Krankheitsrisiken bei gleichzeitigem ökonomischen Druck künftig nicht geringer.
Überlastung zeige sich oft subtil: erhöhte Reizbarkeit; ganze Teams, die sich eher zurückziehen; Qualitätsmängel, trotz hoher Ausbildungsstandards. „Und ein großes Thema bei uns: der Wunsch nach Stundenreduktionen", so Michael Jani.
Gegen all das helfen und wappnen soll – die Resilienz. Ein wahres Zauberwort, ein Trend-Begriff der letzten Jahre, der sich spätestens seit der Corona-Pandemie eignet, um quasi alles zu vermarkten: Seminare, Arbeitskreise, Bücher, Podcasts, Fruchtjoghurts – nun, das mit dem Fruchtjoghurt ist übertrieben. Aber nur das…
Als Begriff, der eigentlich aus der Materialforschung kommt und für die Fähigkeit von Materialien steht, nach Belastungen wieder in die Ausgangsform zurückzukehren, – vom lateinischen: “resilire”, zurückspringen – ist mit Resilienz inzwischen für viele Vieles gemeint. Vielen Definitionen ist gemein, dass Resilienz als Fähigkeit gesehen wird, bestimmte Formen von Widrigkeiten überwinden und Positives erfahren zu können trotz und nach herausfordernden Ereignissen oder Situationen. Die Forschung diskutiert – unter anderem – darüber, wie sehr Resilienz als persönliche Eigenschaft zu sehen ist oder als etwas erlern- und trainierbares, inwiefern wir Resilienz eher als Ergebnis oder eher als Prozess verstehen sollten, und ob Resilienz nicht viel stärker systemisch zu denken ist. So formulierte der kanadische Resilienz-Forscher Michael Ungar auf dem European Congress on Positive Psychology vergangenes Jahr in Innsbruck provokant: “Es gibt ja diese alte Weisheit: Du kannst die Welle nicht stoppen, aber du kannst sie reiten. Um aber die Welle reiten zu können, brauchst du ein Surfboard, einen Surflehrer – und am besten Rettungsschwimmer, falls du mal vom Brett rutscht.”
Zurück in den Gesundheitsbereich, zurück zur Pflege bzw. zur Führung in der Pflege: Das PERMA-Lead-Modell positiver Führung, entwickelt vom Wiener Wirtschafts- und Organisationspsychologen Dr. Markus Ebner, bietet einen evidenzbasierten Rahmen für resiliente und resilienzstärkende Führung. Immer mehr Studien in immer mehr Berufsfeldern, aber eben auch im Gesundheitsbereich, legen nahe: Führungskräfte, die diesen Ansatz praktizieren, werden von ihren Mitarbeitenden als resilienter erlebt, haben aber auch Teams mit signifikant geringeren Krankenständen, Burn-out-Gefährdungsraten, Kündigungswünschen. Nach PERMA-Lead geführte Mitarbeiter stehen Change-Projekten zuversichtlicher gegenüber, fühlen sich stärker als Teil eines Teams – und sogar der Wunsch nach Teilzeitstellen scheint dort niedriger zu sein, wo die Führung als positiv erlebt wird.
PERMA-Lead steht dabei für fünf Säulen oder Führungsstrategien. EinE positive LeaderIn sorgt dafür, dass
Dabei betont Brase, selbst zertifizierte PERMA-Lead-Beraterin: „Wenn die oberste Ebene das, was sie predigt, nicht selber lebt, dann wird das auch nicht übernommen." Zwar hat jede Stationsleitung auch gewisse Spielräume. Aber die wissenschaftlichen Daten legen nahe, dass positive oder eben nicht sehr positive Führungskräfte auf bis mindestens zwei Ebenen unterhalb von ihnen durchstrahlen. Oder eben durchregnen…
Daraus lassen sich auch konkrete Rezepte für Pflegende in der Führung ableiten – die keine Raketenwissenschaft sind, sondern viele Führungskräfte intuitiv anwenden. Positive Emotionen und Energie fördern heißt für Michael Jani u.a. Humor: “Das ist ein großes Thema: Wo gelacht wird, dort funktioniert es!” Dabei müsse gar nicht mal die Heiterkeit im Vordergrund stehen, berichtet Sabine Brase: “Wir hatten Meetings, in denen wir nur über positive Erlebnisse gesprochen haben. Das trägt ein Team sehr lange!"
Engagement und Stärkenorientierung kann bedeuten: Mitarbeitende nach ihren Leidenschaften und Fähigkeiten einzusetzen, zu loben und spezifisch weiterzuqualifizieren: Pflegekraft X ist womöglich für die Führung geboren, weil sie gern Verantwortung übernimmt, Pfleger Y hat vielleicht spezifische Kompetenzen und Interessen, die es fachlich zu nutzen gilt, während Pflegerin Z besonders gut in der Ausbildung der jungen Kräfte aufgehoben sein könnte.
Radlausflüge, Zoobesuche, Sommerfeste – das sind Möglichkeiten, um das Miteinander zu vertiefen und ein mögliches Neben- oder Gegeneinander zu verhindern.
“Ich mache mir immer wieder bewusst: Wofür mache ich meinen Job? Wir haben einen sehr sinnhaften Beruf gewählt, man bekommt ja letztendlich sehr viel zurück”, sagt Michael Jani. Den Pflegenden immer wieder klarzumachen, welche Rolle sie im Genesungsprozess der PatientInnen spielen, aber auch, wofür bestimmte Methoden oder Prozesse eingeführt werden – das kann das Sinnerleben stärken. Und schließlich das Debriefing nach gut gemeisterten, potenziell kritischen Situationen, wie sie zum Beispiel in einer Notaufnahme Alltag sind – das kann, sagt Gisela Gehring aus Garmisch-Partenkirchen, auch die Erfolgswahrnehmung und damit die Resilienz von Pflegenden stärken.
Dabei, betont Gehring, sei es auch wichtig, neben aller Verantwortung und Überzeugung immer wieder Abstand zu finden – besonders als Führungskraft. “Irgendwann muss Feierabend sein, damit einen nicht alles ins Wochenende begleitet. Am Montag kann man die Problemtüte ja wieder rausholen…”
Dr. Christiane Hasenclever ist Fachärztin für Anästhesiologie mit Zusatzbezeichnung Palliativmedizin. Sie ist zertifizierte PERMA-Lead-Beraterin.
Christian Thiele arbeitet als Hochschuldozent, Vortragsredner, Trainer und Autor für Positive Psychologie und Positive Leadership.
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