Neoliberalismus und das Spiel mit der pflegerischen Freiheit

Eine versuchte Erklärung der Systemzusammenhänge

von Lisa Lichtenegger

 

Würde man betagte Damen fragen, wieviel sie gerne mit der Führung des Haushaltes, dem Großziehen der Kinder sowie der Pflege der älteren Familienmitglieder verdient hätten, stießen wir auf verdutzte Gesichter. Sie sahen es als ihre soziale Verpflichtung an, dies unentgeltlich zu tun. Das Prinzip, dass diese Tätigkeiten mittlerweile aus der Familie ausgelagert sind und somit zur Erwerbstätigkeit wurden, ist eine Neuerscheinung unserer Zeit.

 

Ein Zweig, welcher nach der Haushaltsführung Einzug in die Marktwirtschaft fand, ist das Gesundheitswesen. Der Neoliberalismus scheint wie eine Parallelwelt zum Gesundheitswesen zu verlaufen, welche zumeist weitaus weniger koexistent ist, als uns vielleicht klar sein will. Klarheit in diese Verstrickungen zu bringen, soll Inhalt der Videos „Neoliberalismus in der Pflege“ sein (Link im Anhang). Denn eines war vielen Akteur*innen in der Pflege bisher nicht bewusst – Neoliberalismus beeinflusst indirekt auf vielen Ebenen, wie sich das Berufsbild Pflege berufspolitisch und öffentlichkeitswirksam definiert.

 

Nicht nur das Berufsbild Pflege hat Probleme, sich in- wie auch extrinsisch zu positionieren – auch der Begriff des Neoliberalismus kämpft in Sozialstaaten mit negativ aufgeladenen Zuschreibungen: Neoliberalismus geht im Gesundheitswesen ein stückweit mit der Privatisierung des Risikos des Einzelnen einher. Die Gesundheit als unternehmerisches Risiko des Individuums zu sehen, könnte zunehmend zum Sozialabbau führen.

 

Um den Neoliberalismus und seine Auswirkungen auf das Gesundheitswesen rudimentär verstehen zu können, kommt man nicht um die Begriffe Reproduktions- und Sorgearbeit herum. Diese Tätigkeitsgruppe erfährt heute mehr Relevanz in unserer Gesellschaft als jemals zuvor und sorgt regelmäßig mit Forderungen nach mehr Gehalt, gesellschaftlicher Anerkennung sowie berufspolitischer Standesvertretung für Schlagzeilen.

 

Als Reproduktions- und Sorgearbeit lassen sich alle Tätigkeiten definieren, die zum Erhalt des Menschen und seines Lebensumfeldes dienen – dies beinhaltet neben dem Gebären, Versorgen und Aufziehen von Kindern auch jegliche kulturelle, soziale beziehungsweise der Gemeinschaft dienende Tätigkeit. Auch die Nachbarschaftshilfe fällt unter Reproduktions- und Sorgearbeit. Im professionellen Sinne der Gesundheits- und Krankenpflege wird darunter – neben der offensichtlichen Unterstützung bei alltäglichen Tätigkeiten und der Versorgung bei komplexen sowie chronischen Krankheitsbildern – auch die Bedürfnisermittlung Betroffener und ihres Umfeldes verstanden. Bedürfnisse in Bezug auf Lebensgestaltung und Krankheitsinklusion artikulieren zu dürfen sowie überhaupt zu begreifen, wird als eine der undefinierbaren Tätigkeiten im Care-Sektor verstanden.

 

Die Reproduktions- und Sorgearbeit ist vielfältig unliebsam mit der Marktökonomie verstrickt. Ausgelöst durch steigende Lebenserhaltungskosten und sich verändernde gesellschaftliche Karriere-Paradigmen, müssen zumeist alle im Haushalt lebenden Personen einer Vollzeitberufstätigkeit nachgehen. Das führt dazu, dass die klassische Sorgearbeit oftmals auf private Konzerne ausgelagert wird. Genau wenn das passiert, steht Sorgearbeit unter einem starken Kostendruck – weswegen zuerst im Bereich der Personalausgaben der Sparhebel angesetzt wird. Wie in verschiedensten Statistik-Austria (Quelle) Berichten ersichtlich, sind in der Sorgearbeit großteils Frauen tätig – und somit dreht sich das patriarchische Uhrwerk fleißig weiter.

 

Das Problem mit der Bemessung von Sorgearbeit und warum die Bezifferung pflegerischer Tätigkeiten anhand ärztlicher Hilfstätigkeiten tiefer in die Misere führt

 

Die Crux an der Debatte um den Pflegemangel liegt zu einem nicht unwesentlichen Teil an der Einflussnahme des Neoliberalismus in Bezug auf Bezifferung von Tätigkeiten, die per se nicht monetarisch bewertbar sind. So weicht man darauf aus, klassisch pflegerische Agenden (wie zB. Körperpflege) anhand ärztlicher Hilfstätigkeiten zu bemessen. Wieviel ein Gespräch, eine Reorganisation häuslicher Strukturen im Krankheitsfall, eine Körperwäsche wert ist, lässt sich in der momentanen Praxis schwer in Geld beziffern – wieviel eine Blutabnahme, eine Statuserhebung oder ein Verbandwechsel einbringt, allerdings schon.

 

Wenn sich das Berufsbild Pflege jedoch weiterhin nicht selbst positioniert, die Tätigkeiten, Kernkompetenzen nicht mit einem marktökonomischen Wert versieht, führt diese Nicht-Definition der eigenen Profession auch weiterhin zu vermindertem sozialen, wie auch wirtschaftlichen Ansehen.

In der Krankenhauspraxis führt diese Versäumnis nämlich dazu, dass ein neues Pflegeverständnis legitimiert wird – der gehobene Dienst wird so von der pflegerischen Basisversorgung getrennt – diese Hilfsdienste werden an weisungsgebundene Berufsgruppen delegiert. Übrig bleiben für den gehobenen Dienst vor allem administrative Tätigkeiten, ärztliche Hilfsdienste sowie die Pflegeplanung.

 

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es erneut an der Definition des Berufsbildes der Pflege scheitert – gesellschaftlich wie auch berufspolitisch. Auch dass ein weiblich geprägter Beruf umso mehr um die adäquate Entlohnung der Tätigkeit kämpfen muss, ist nichts Neues.

Eine in der Praxis zumeist gelebte Definition von Pflege war bisher immer, erkrankte Menschen so weit bei der Wiedererlangung ihrer Fähigkeiten zu unterstützen, dass sie, mit einigen Adaptierungen, ein eigenständiges Leben, auch mit Einschränkungen oder Erkrankungen führen können.

Dabei steht wohl folgende Frage im Zentrum: Wieviel ist der Dienst einer Person wert, der versucht, gewohntes Leben – soweit machbar – zu ermöglichen? Für die meisten Betroffenen ist dies wohl von unbezahlbarem Wert.

 

Hier kommen Sie zu den Videos:

https://youtu.be/k66L8LWnwc4

https://youtu.be/O1Z2hpIyXS4

Hier kommen Sie zu den Podcasts: 

https://www.pflegenetz.at/pflegenetzchannel/pflegecast/

 

 

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Lisa Lichtenegger, BSc MSc, ist Gesundheits- und Krankenpflegeperson im Bereich der Kinder- und Erwachsenenintensivpflege sowie Content-Creator für das pflegenetz. Sie beendete 2016 das Bachelorstudium Gesundheits- und Krankenpflege und ist seit 2020 Absolventin des Master-Studienganges Angewandte Gesundheitswissenschaften der IMC Fachhochschule Krems.

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