Wie alle gewinnen & niemand verliert

Interessensausgleich in der 24-Stunden-Betreuung

von Lisa Zwirchmayr

 

Emotionalisierte Berichterstattung schickt sich nicht, lautet ein Grundsatz des investigativen Journalismus – nichts verkauft sich aber bekanntlich besser als viel Gefühl. Betrachtet man die Berichterstattung der Tagesmedien, wird das vor allem bei den Themen Corona und Pflegenotstand sichtbar. Auch der Diskurs über die „24-Stunden-Betreuung“ wurde in Österreich in den letzten Monaten polarisierend geführt – dass die Betreuer*innen unter schlechten Arbeitsbedingungen leiden, sie keine soziale Absicherung und keine Ruhezeiten haben, sind nur einige Urteile, die die Aufhänger der Tagespresse uns entgegenschreien. Aber ist das wirklich so?

„Die 24-Stunden-Betreuung lässt sich am besten durch ein Triangel beschreiben, bestehend aus Betreuer*innen, Vermittlungsagenturen und Kund*innen.“ – In der Diskussion „gepflegt:lautdenken mit Lisa Zwirchmayr - Wie alle gewinnen und niemand verliert - 24-Stunden-Betreuung in Österreich“ wurde  mit einem anderen Triangel debattiert – nämlich dem aus Vermittlungsagentur, Menschenrechtsorganisation und Zertifizierungsstelle. Um die einseitige Berichterstattung zu diesem Thema etwas zu relativieren, wurden alle 3 Seiten des Triangels angeschlagen und trotz konträrster Standpunkte, war ein gewisser Gleichklang hör- und spürbar.

 

Amnesty International veröffentlichte im Juli 2021 einen Bericht, welcher darlegt, dass das rechtliche Rahmenwerk in Österreich die Menschenrechte der Betreuer*innen nicht ausreichend schützt. Lt. Amnesty International landen diese zu großen Teilen in sogenannten Scheinselbstständigkeiten – obwohl sie einen Gewerbeschein in Österreich besitzen, genießen sie trotzdem nicht die Vorteile der Selbstständigkeit wie z.B. Stundensätze selbstbestimmt festlegen zu können. Dass die Wahrung der Menschenrechte nicht zur Diskussion steht und unter allen Umständen gegeben sein muss, darüber sind sich alle Seiten des Triangels einig. Anders verhält es sich allerdings bei der Frage, ob Arbeitsrecht auch Menschenrecht ist.

Die Rolle der Vermittlungsagenturen für 24-Stunden-Betreuung wirkt auf den Laien wenig komplex – lebt man Vermittlung aber mit einem Qualitätsanspruch, lebt man auch den Interessensausgleich – nämlich den zwischen Betreuer*innen und Kund*innen.  Neben Aus- und Fortbildung, Qualitätssicherung durch Gesundheits- und Krankenpflegepersonen & muttersprachliche Beratung bei Problemen bieten Vermittlungsagenturen auch immer eine gewisse Absicherung für die Betreuer*innen. Durch vorangegangen Beratungsgespräche sowie Einsicht und Beurteilung der Betreuungssituation wird sichergestellt, dass keine Kund*innensituation vorliegt, welche die Betreuer*innen nicht bewältigen können. Die qualitativ hochwertige Arbeit der Agenturen wird in Österreich durch die Zertifizierungsstelle des österreichischen Qualitätszertifikates für Vermittlungsagenturen in der 24-Stunden-Betreuung (ÖQZ) sichergestellt.

Vermittlungsagenturen, welche sich zertifizieren wollen, müssen, inkludiert in die hohen Anforderungen der Zertifizierungsstelle, sämtliche firmeninternen Strukturen offenlegen. Um auch die Perspektive der Betreuer*innen sowie die Wahrung der Menschenrechte beurteilen zu können, werden vom ÖQZ mindestens zwei Betreuungssituationen mit der zuständigen Gesundheits- und Krankenpflegeperson besucht. Neben einem 4-Augen-Gespräch mit den Betreuer*innen sowie den Kund*innen findet eine Pflegevisite statt, um die Qualität der Betreuung sicherstellen zu können. Zertifizierung muss flächendeckend eingeführt werden – über diesen notwendigen Schritt sind sich alle einige, auch die Politik, welche das Ausrollen des ÖQZ im österreichischen Strukturplan für Gesundheit (ÖSG) verankert hat. Ein erster Schritt in eine qualitativ hochwertige Betreuungszukunft?

 

In Zukunft braucht es einen exakten Diskurs über die Scheinselbstständigkeit der Betreuer*innen, aber dann bitte von allen Seiten. Wie im nationalen Rechtskontext erläutert wird, ermöglicht die Selbstständigkeit den Betreuer*innen nämlich, dass länger Phasen der Tätigkeit längere Phasen der Nicht-Tätigkeit abwechseln. Hebt man dieses Arbeitszeitmodell auf, ist es den Betreuer*innen nicht mehr möglich, in regelmäßigen Abständen drei Wochen am Stück in ihrem Heimatland zu verbringen – das kann sich, rein rechnerisch, mit fünf Wochen Urlaub im Angestelltenverhältnis einfach nicht ausgehen. Ob die Betreuer*innen das wollen, muss mit ihren Interessensvertretungen besprochen werden – ein Triangel ertönt nur, wenn sich alle Seiten beteiligen und die Betreuer*innen wollen bei ihren Arbeitsmodellen ebenso mitdiskutieren.

Gesellschaftspolitisch muss man sich in Zukunft die Frage stellen, wieviel die Betreuung der älteren Generationen der Gesellschaft wert ist. Den Familiensystemen muss definitiv, auch über den Pflegegeldzuschuss hinausgehend, unter die Arme gegriffen werden. Hier könnte man, bekanntlich, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – Koppelt man den Erhalt einer entsprechenden Förderung an die Inanspruchnahme einer zertifizierten Agentur, verbessert sich nicht nur die Versorgungs- sondern auch die Lebensqualität der Betreuer*innen.

Denn Fakt ist auch: Die Betreuer*innen in menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen unterzubringen, geht sich schon lange nicht mehr aus – Personal im Sektor Personenbetreuung wird händeringend gesucht und zurecht stellt qualitativ hochwertige Betreuung auch hochwertige Lebens- & Arbeitsansprüche.

 

In einem Punkt sind sich alle einig: die Politik muss nicht nur zum Handeln aufgefordert, sondern gezwungen werden. Eine bessere Finanzierung des Bereiches wird sich in einer deutlichen Qualitätssteigerung niederschlagen – oder um es anders auszudrücken – ohne entsprechend viel Geld wird es in Österreich langfristig auch keine gute Betreuung der Alten geben.

Und ein weiterer Punkt lässt das Triangel noch im Gleichklang erschwingen – vielleicht sollten wir in Zukunft weniger von „24-Stunden-Betreuung“ sondern mehr von Personenbetreuung sprechen. Worte bilden unsere Realität – und 24-Stunden-Betreuung, rund um die Uhr, kann und soll niemand bewerkstelligen müssen.

 

Weiterführende Links:

gepflegt:lautdenken mit Lisa Zwirchmayr

oeqz.at

www.amnesty.at

www.sozialministerium.at/Themen/Pflege

goeg.at/OESG

 

Beiträge „Am Schauplatz“ - ORF:

Am Schauplatz: Sklaven für die Alten [12.9.2019]

Am Schauplatz: Pflege in Quarantäne [25.6.2020]

 

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Lisa Zwirchmayr, BSc MSc, ist Gesundheits- und Krankenpflegeperson im Bereich der Kinder- und Erwachsenenintensivpflege sowie Content-Creator für das pflegenetz. Sie beendete 2016 das Bachelorstudium Gesundheits- und Krankenpflege und ist seit 2020 Absolventin des Master-Studienganges Angewandte Gesundheitswissenschaften der IMC Fachhochschule Krems.

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